Sonntag, 18. August 2013
Predigttext: Markus 8, 22-26

22 Und sie kamen nach Betsaida. Und sie brachten zu Jesus einen Blinden und baten ihn, dass er ihn anrühre.
23 Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf, tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn: Siehst du etwas?
24 Und er sah auf und sprach: Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen.
25 Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, sodass er alles scharf sehen konnte.
26 Und er schickte ihn heim und sprach: Geh nicht hinein in das Dorf!


1
Liebe Gemeinde,
wozu hat Gott dem Menschen Augen gegeben, wenn nicht, um sich damit umzusehen in der Welt?
Was könnte schlimmer sein, als blind zu sein? Nichts Schmecken? Nichts riechen? Nichts spüren? Nichts hören?
Der Blinde in unserer Geschichte aus dem Markusevangelium soll jedenfalls wieder sehen können. Das wünschen ihm alle.

Das Auge gilt als unser wichtigstes Sinnesorgan.
70% unserer Sinneszellen befinden sich auf der Augennetzhaut.
Dem Seh-Sinn verdanken wir unseren aufrechten Gang als homo erectus:
denn erhobenen Hauptes konnten unsere Vorfahren weiter blicken in der Steppe,
man könnte auch sagen: besser spähen,
um nach potenziellen Feinden Ausschau zu halten. Oder nach allem, was als Beute Sättigung und Befriedigung versprach.
Angst, Schaulust und Neugier sitzen nah beieinander im Auge.

Sicher: das Lauschen funktioniert ähnlich.
Da spitzt man die Ohren, um verdächtige Geräusche zu orten. Oder um liebe Worte zu hören. Oder um neueste Tratschgeschichten aufzusaugen.

Wer späht und lauscht, erhält wichtige Informationen, um sich zu orientieren.
In der Welt. In der Gesellschaft.
Unter Freunden. Und unter Feinden.
Sie wissen noch, wie man die Staatssicherheit im DDR-Volksmund nannte?
Firma Horch und Guck.
Ohr und Auge der Partei.

Die Systeme wechseln. Der Wunsch nach Durchleuchtung und Kontrolle bleibt.
Auch im Westen also. Auch bei unseren Freunden jenseits des Atlantik. Auch bei uns.
Lauschen und Spähen. Denn:
Wer den Durchblick hat, hat Macht.
Kann geheime Strategien entwickeln. Intrigen inszenieren. Gefahrenherde ausheben und unschädlich machen.

Dass das Zeitalter der Aufklärung auch zugleich eine Blütezeit der Geheimbünde und Verschwörungsphantasien war ist sicher kein Zufall.
Unser fränkischer Jubilar Jean Paul hat viel davon in seine Roman aufgenommen und ausgesponnen.
Was er wohl heute schreiben würde, wenn er sehen könnte, mit welchen technischen Mitteln inzwischen gelauscht und gespäht und gespeichert und ausgewertet werden kann?
Als Schriftsteller wäre er wahrscheinlich hellauf begeistert. Aber als Bürger einer rechtstaatlichen Demokratie? Oder wäre er selber unter den Aufklärern, den Bradley Mannings und Edward Snowdens, die ihr Wissen öffentlich machen, um uns zu zeigen: das läuft hinter den Kulissen! Schaut hin!





2
Liebe Gemeinde,
als die Nachricht von den Spähprogrammen der US-amerikanischen Nationalen Sicherheits-Agentur ins bundesdeutsche Sommerloch einschlug und mediale Riesenwellen schlug, war zu vermuten, dass hier ein wichtiges Wahlkampfthema vom Himmel fiel.

Doch die Umfragen zeigen ein seltsam paradoxes Bild:
70% der Bevölkerung waren vor einem Monat mit dem Handeln der Bundesregierung unzufrieden und glaubten ihr nicht, dass sie erst aus den Medien von dem Spähprogramm erfahren habe. Aber zugleich sagten 70%, dass dies für ihre Wahlentscheidung keine oder eine geringe Rolle spielen würde. (Infratest Dimap 19.7.)
Auch gelang es der Piratenpartei als der ‚Fachorganisation‘ für Netzthemen und Datenschutz bisher nicht, einen Umfragevorteil aus den neuen Enthüllungen zu ziehen.

Was ist da los, frage ich mich?

Bestätigt die NSA-Affäre nur, was wir doch schon immer vermutet haben: dass der CIA alles mitbekommt, was er wissen will?
Oder ist doch die Haltung so weit verbreitet, dass man ja selbst kontrollieren kann, was man an privaten Daten ins Netz stellt und damit selbst verantworten muss, was über einen gewusst wird?
Oder glauben doch so viele den Versicherungen der Politiker, dass das Abschöpfen dieser Daten allein zur Verbesserung der Sicherheit und dem Schutz vor Terroranschlägen dient und ganz im Rahmen geltenden Rechts stattfindet?
Aber -
Geht das wirklich nicht gleichzeitig:
Sicherheit UND Privatsphäre?
Sicherheit UND Freiheit?
Und was ist mit dem in Deutschland sehr hoch geschätzten Recht auf informationelle Selbstbestimmung?
Und welche Asymmetrie stellt sich da ein: ich werde zum gläsernen Bürger, während es immer schwerer wird, die Vorgänge in Staat und Wirtschaft, Justiz und Militär, eben alles, was die entscheidenden Eliten so tun, zu durchschauen und eine eigene Meinung dazu zu bilden.

In einem beunruhigenden Halbwissen befinden sich selbst die an Politik interessierten Bürger.
‚Ich sehe Menschen herumgehen wie Bäume.‘ sagt unser Blinder in der Geschichte nach Jesu erstem Heilungsversuch. Da ist noch viel zu vieles schemenhaft und unklar und schwammig und nebulös. Nein, blind sind wir nicht mehr, naiv auch nicht. Aber scharf sehen, was ist, das steht noch aus.

3
Liebe Gemeinde,
Politikberatung mit der Bibel ist es ja nicht, was wir hier in dieser Predigtreihe machen wollen.
Aber ein paar erhellende Schlaglichter theologischer Art können ja auch nicht schaden.

Was mir zuerst einfiel bei der Vorbereitung waren die vielen menschlich-allzumenschlichen Geschichten der Bibel, in denen auch gespäht und geforscht wird: von den Kundschaftern auf dem Weg ins Heilige Land, im Militär Davids, der Perserkönig Darius lässt Daniels Glaubensleben zu Hause ausspionieren und auch die Weisen aus dem Morgenland haben etwas von einem Spähtrupp, wenn sie gleich die Spionageabsicht des Herodes unterlaufen und in eine friedliche Absicht umwandeln.

Der Wille zum Wissen ist wohl etwas ganz Fundamentales und auch das Bedürfnis nach Schutz und Privatsphäre. Die Grenze zwischen dem, was öffentlich (oder transparent) sein muss und was privat (oder geheim) bleiben darf, ist immer wieder neu zu ziehen. Mit guten Argumenten hoffentlich.
Und es ist entscheidend, wer welche Informationen wie verwendet. Dienen sie dazu, einen militärischen Sieg herbeizuführen? Oder liefern sie einen Vorwand, einen unliebsamen Beamten in die Löwengrube zu befördern?

Eine andere Perspektive bietet sich aus dem Psalm 139, den wir zum Eingang gesprochen haben.
Hier wird Gott – und er allein – als der Allwissende und alles Überschauende gezeichnet. Niemand kann sich vor ihm verstecken und verstellen. Er sieht in alle Winkel der Erde und in jedes Herz.

Dabei entfaltet sich die ganze Ambivalenz von Sicherheit und Überwachung. Für viele ist dieser Psalm unerträglich, weil hinter dem allgegenwärtigen Gott immer auch gleich die Kontrollinstanz erahnt wird, die nachschaut, ob man auch brav die Hände über der Bettdecke hat und nicht darunter, und der immer schon weiß, was gut ist und was böse. Andere lieben den Psalm, weil er zeigt, dass man nie aus Gottes schützender Nähe herausfallen kann. Und der hilft zu unterscheiden, welcher Weg zum Leben führt und welcher nicht.

Sicher ist dabei eins: Allwissenheit ist eine Eigenschaft, die nur Gott zukommt. Und wenn menschliche Institutionen versuchen, diesen Zustand zu erreichen, dann setzen sie sich hochmütig und enthemmt an Gottes Stelle. Und das ist Hybris. Eine der Todsünden. Denn sie hoffen mit der Allwissenheit auch die Allmacht erringen zu können.

Aber noch ein drittes: Auch Christus selbst ist ein wichtiger Bezugspunkt für diese Themen. Für den großen Theologen des letzten Jahrhunderts, Karl Barth, waren die Aussagen über Christus, das er die Wahrheit ist und das Licht, Anlass zu fragen, ob es aus christlicher Perspektive überhaupt so etwas wie Geheimdienste geben darf, die eben nicht dem öffentlichen Ringen um Wahrheit verpflichtet sind sondern im Finstern ihren demokratisch unkontrollierbaren Geschäften nachgehen.

Da sind es schon eher die sich selbst nicht schonenden Aufklärer und Petzer und Whistleblower, die diesem christlichen Ideal von Wahrheit und Klarheit zu entsprechen versuchen – auch wenn sie damit die Machtsicherungslogiken ihres Staates oder Arbeitsgebers zu verraten scheinen.
Denn ihr Handeln steht unter der Verheißung Jesu, dass Wahrheit frei macht.

4
Mir selbst, liebe Gemeinde, sind durch die Geschichte mit der Blindenheilung noch einmal die Augen aufgegangen für eine sehr politische Lesart der Geschichte:

Jenseits aller medizinischen Erklärungsversuche, mit denen man einer solchen Heilungsgeschichte auch zu Leibe rücken kann, reizt mich dabei der metaphorische Gehalt des Begriffs ‚Scharfsichtigkeit‘. Genau sehen, was Sache ist. Den Nebelwerfern trotzen. Und den Verschleierungsmechanismen.

Bei der Blockupy-Demo Anfang Juni in Frankfurt habe ich zum ersten Mal aus der Nähe gesehen, wie Pfefferspray wirkt. Wenn einen der Strahl aus der Sprayflasche mitten ins Gesicht trifft. Wie die Augen zuschwellen, tränen und schmerzen. Als sollte bei den vielen kritischen und wachen Demonstrierenden bestraft und verhindert werden, dass sie genau hinsehen, wie Politik und Banken in der anhaltenden Krise agieren.

Aber was wäre das auch für eine Demokratie, in der es den Wählern nur alle vier bis fünf Jahre wieder gestattet ist, die Machthabenden zu legitimieren und dann diese machen zu lassen bis zur nächsten Wahl. Das wachsame Augenaufhalten kann man letztlich nicht delegieren. Zumindest nicht allein an die Amtsträger/innen und Funktionäre. Diese streuen nur zu gerne Sand in die Augen der Öffentlichkeit.

In Frankfurt gab es in den Reihen der Demonstration die vielen freiwilligen Sanitäter, die den Pfefferspray-Opfern schnell zu Hilfe eilten und mit ihren Wasserflaschen so lange die Augen spülten, bis sie nach und nach wieder sehen konnten, erst schemenhaft, dann wieder klar. Für viele junge Demonstrationsteilnehmende, die ich gesprochen habe, war diese erste Begegnung mit Polizeigewalt, die demokratische Auseinandersetzung verhindern sollte, ein Schock.
Sicher: auch eine Politisierung. Aber leider erst einmal mit Misstrauen und Skepsis gegenüber den Machtmechanismen und Machtverhältnissen. Sie haben das Gewaltmonopol des Staates als Bedrohung erlebt und nicht als Schutz.
Vielen wird es nicht mehr möglich sein, in ihr ‚altes Dorf‘ einer politischen Arglosigkeit zurückzukehren.
Und es ist offen, ob sie sich ihren Weg der politischen Mitwirkung im Rahmen des etablierten Parteiensystems und der repräsentativen Demokratie suchen werden. Oder doch eher als eine außerparlamentarische, wache, scharfsichtige und sich einmischende Kontrollinstanz.

Gut, wenn wir Christen ihnen einen Jesus zeigen können, der auf Seiten des klaren Blicks und der offenen Augen steht und ermutigt, auf dem eigenen Weg weiterzugehen.

Wie bei dem Blinden im Markusevangelium. Oder bei Paulus, als der durch die Begegnung mit Christus zu einem ‚neuen Sehen‘ kam. Oder auch bei uns. Als Wählerinnen und Wählern. Und als Christinnen und Christen.

Amen.