Mittwoch, 6. Januar 2016
Epheser 3, 2-3a.5-6
2 Ihr habt ja gehört, welches Amt die Gnade Gottes mir für euch gegeben hat:
3a Durch Offenbarung ist mir das Geheimnis kundgemacht worden.
5 Dies war in früheren Zeiten den Menschenkindern nicht kundgemacht, wie es jetzt offenbart ist seinen heiligen Aposteln und Propheten durch den Geist;
6 nämlich dass die Heiden Miterben sind und mit zu seinem Leib gehören und Mitgenossen der Verheißung in Christus Jesus sind durch das Evangelium.

1
Liebe Gemeinde,

eine Offenbarung, eine Vision ist es, die den Apostel Paulus so eine herausgehobene Stellung gibt unter all den anderen Aposteln:
die Vision von dem EINEN LEIB aus Juden und Heiden in Jesus Christus.

Was Paulus da als ‚Sonderauftrag des Herrn‘ empfing und konsequent umzusetzen begann, war eine Zumutung sonders gleichen!
Man kann es vielleicht am Ehesten vergleichen mit der Aufregung um den Satz des damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff, als er feststellte:
Der Islam gehört zu Deutschland.
‚Das geht doch nicht!‘ rief es aus verschiedensten Ecken. ‚Der Islam kann doch schon aus Prinzip nicht zu einem christlich-abendländischen Land gehören! Die ticken doch völlig anders als wir. Haben andere Werte, andere Lebensgewohnheiten, einen ganz anderen Glauben…‘

Und so mögen es auch die ersten Christen empfunden haben, die alle Judenchristen waren oder zumindest Heiden, die sich freiwillig an die jüdischen Riten und Gebote hielten. Das war tolerabel, mit denen an einem Tisch zu sitzen! Aber so richtige Heiden? Die gehören doch nicht in die Gemeinde des jüdischen Messias Jesus! Irgendwo muss doch eine Grenze sein!

Und genau diese Grenze, die schleift Paulus, diese von uns gezogenen Unterschiede: es gibt für ihn weder Freie noch Sklaven, weder Mann noch Frau, weder Juden noch Griechen: alle eins im Leib des einen Herrn Jesus Christus.

Das liegt völlig quer zu unserer unseligen deutschen Tradition vom möglichst einheitlichen, homogenen Volkskörper. Dass muss gar nicht mal die rassistische Variante der Nazis sein, die diese Einheit auf biologischer Ebene gesucht haben.
Es kann auch die Vision einer einheitlichen Leitkultur sein, die die Grenze zieht, wer dazugehören darf und wer nicht.

Nicht zuletzt das Buch von Thilo Sarrazin ‚Deutschland schafft sich ab‘ war grundiert in dieser Phantasie eines ethnisch homogenen Deutschland, zu dem es zurückzukehren gelte. Fremdes wird als Bedrohung der Reinheit erlebt und abgewehrt.

Paulinisch-christlich ist das jedenfalls nicht.

Exkurs

An dieser Stelle, liebe Gemeinde, wo wir über Körperbilder reden, muss ich eine aktuelle Anmerkung zu den Vorkommnissen in Köln machen, die wir seit Montag in den Medien so breit diskutieren:
Im Moment ist anzunehmen, dass eine beträchtliche Anzahl von kleinkriminellen Bandenmitgliedern eine Strategie sexueller Übergriffigkeit fuhr, um so an Geldbörsen und Handy der belästigten Frauen zu kommen.
Entgegen gängiger journalistischer Regeln war plötzlich die ethnische Herkunft zentraler Bestandteil der Debatte. Und die erste Phantasie, die sich in den Köpfen festsetze, war: unkontrollierbare Nordafrikaner und Araber, vielleicht sogar aus dem Kreis der so selbstlos aufgenommenen Flüchtlinge, dringen auf belästigende, brutale, ja vergewaltigende Weise in den unschuldigen, überrumpelten Leib der einheimischen Bevölkerung ein, in Gestalt junger wehrloser und ungeschützter Frauen.

Jeder der Übergriffe dort war ein Verbrechen und gehört strikt verfolgt und geahndet. Aber unterschwellig werden da kollektive Körperbilder geformt, die auf eines abzielen: auf Abwehr eines bedrohlichen Fremd-Körpers. Und die natürliche Schlussfolgerung wäre ja, das Autoimmunsystem zu aktivieren und die ‚Infektionserreger‘ auszuscheiden. Und von da ist es nicht mehr weit bis zu den Schüssen in Hessen auf eine bewohnte Asylbewerberunterkunft.

Das sind genau die Gegenphantasien zu denen des Paulus, der sich vorstellen konnte, dass das völlig verschiedene friedlich und harmonisch zu einem Leib zusammen finden könnte.


2
Liebe Gemeinde,
so wie wir heute lernen müssen:
‚Das Deutschland, an das wir uns gewöhnt haben, wird es so nicht mehr geben.‘
musste Paulus bei seinen ‚konservativen‘ also ‚bewahrungsfreundlichen‘ Mitgenossen dafür werben, dass es die Gemeinde, an die sie sich in den wenigen Jahren der Christus-Nachfolge gewöhnt hatten, so nicht länger geben wird. Ja nicht geben darf. Weil es dem Wesen des Evangeliums widersprechen würde.

Denn Gottes Zusage an die Menschen in seinem Sohn war eben: universal. An alle Menschen gerichtet. Und damit eine Art religiöse Globalisierung.

Im Matthäusevangelium wird das nicht so abstrakt theologisch abgehandelt, sondern ganz sinnenfroh erzählt:
Die drei Weisen aus dem Osten kommen, um das Kind in der Krippe anzubeten.
Bestimmt keine Juden oder Judengenossen. Aber sie stehen da inmitten der Schar der ortsansässigen Krippenfiguren, als gehörten sie dazu.
Als exotische Fremde doch kein Fremdkörper. Mitgenossen der Verheißung.
Gelockt durch die Offenbarung, die ihnen zuteil wurde im Stern von Betlehem.
Der scheinen sollte und noch scheint über alle Welt.

In den Bildern, die man sich über die Jahrhunderte von den drei Weisen gemacht hat,
wurde immer deutlicher sichtbar, dass sie als Stellvertreter für die gesamte damals bekannte Welt genommen wurden:
einer für Europa, einer für Asien und ein dunkelhäutiger für Afrika.
Die ganze Welt reagiert auf das Ereignis der Zeitenwende.
Und von dem Kind gehen Impulse in alle Winkel der Erde.

Es ist ein Stoffwechsel in Gang gesetzt, der keine Gebiete mehr kennt, die sich dem entziehen können. Eine global vernetze Welt, die sich auf dem Weg einer dynamischen Veränderung befindet. Damals. Wie heute.

Nur, dass wir heute vor allem eine Globalisierung erleben, die rein wirtschaftlichen und machtpolitischen Vorgaben folgt. Mitsamt der Ausbeutung und Zerstörung und sozialen Verwerfung. Und viele, die ahnen, dass das nicht die Zukunft des Planenten sein kann, sehnen sich zurück nach ihren kleinen, sicheren, unabhängigen Gruppen und Clans und Nationalstaaten.

Aber die Globalisierung lässt sich nicht so leicht zurückdrehen, wenn es denn überhaupt ein realistisches Ziel sein kann. Zu den Warenströmen und Geldströmen kommen nun eben auch: die Menschenströme. Teil des Stoffwechsels in der einen Welt.
Krieg und Zerstörung an einem fernen Ort bleiben nun eben nicht mehr ohne Folgen bei uns. So wie der Krieg und die Zerstörung auch immer daraufhin zu befragen sind,
was wir dazu beigetragen haben – und was wir ungerne ansehen.
Denn das könnte ja unsere Reinheitsphantasien gefährden…

Auch hier ist also noch einmal zu betonen: Flüchtlinge nicht die URSACHE der Veränderungen, sondern bereits die Folge einer Entwicklung, die lange im Gange ist und uns zeigt: wie bisher geht‘s nicht weiter.

3
Liebe Gemeinde,
kehren wir zurück zur Vision des Paulus von der Einheit und des Mitgenossenschaft.
Er hatte ja zuerst einmal die junge, erst im entstehende christliche Gemeinde im Blick. Die wollte er öffnen, bunter und vielfältiger machen.
Nicht, weil er irgendwelche ideologischen Multikulti-Phantasien hatte.
Sondern weil er fähig war, den Blick auf die Gemeinsamkeiten zu lenken.
Und diese war eigentlich nur eine einzige Gemeinsamkeit, die als Grundlage aber völlig ausreichen müsste: der Glaube an das neue, das ewige Leben in Jesus Christus.

Und er wusste aus seinen Gemeinden nur zu gut, wie viele Konflikte da rumorten, meschlich-allzumenschliche, wenn Menschen verschiedener Bildung und verschiedener Bräuche und verschiedener Sprache und verschiedenen Ansehens und verschiedenen Vermögens aufeinandertrafen. Da ging es vielleicht genauso turbulent und auch mal aggressiv zu wie hier bei uns in den Flüchtlingsquartieren.

Aber er vermöchte es, in seiner Predigt eine Perspektive zu geben, auf die hin es möglich sein würde, sich als Gemeinschaft zu begreifen und darauf hinzuleben wie Christenmenschen miteinander umzugehen.

Und da kommen wir nun wirklich an die spannende Stelle, ob diese Vision des Paulus vom einen Leib der Mitgenossen auch ein politisches Modell sein kann für unsere Lage. Für die Integrationsaufgabe, die vor uns liegt. Und die sich eben NICHT allein innerhalb einer christlichen Gemeinschaft abspielt, in der alle den gleichen Glauben haben.

Es ist ja in der Bibel beschrieben, wie der Streit zwischen Paulus als dem Heidenmissionar und den judenchristlichen Aposteln beigelegt werden konnte.
Im sogenannten Apostelkonzil wehrte sich Paulus standhaft dagegen, dass die zum Glauben gekommenen Heiden erst beschnitten werden müssten, also Juden werden müssten, um Christen sein zu können.

Er handelte aus, dass die einzige Bedingung war, dass sich die neuen Mitgenossen allein an die Gebote halten sollten, die eine Tischgemeinschaft mit frommen Juden ermöglichte. Also nicht an die jüdische Torah mit all ihren Regelungen und Traditionen. Sondern an den Grundkonsens für alle Menschen, vermutlichen orientiert an den 7 Geboten, die Noah nach der Sintflut von Gott erhielt:
• Verbot von Mord
• Verbot von Diebstahl
• Verbot von Götzenanbetung
• Verbot von Ehebruch
• Verbot der Brutalität gegen Tiere
• Verbot von Gotteslästerung
• Einführung von Gerichten als Ausdruck der Wahrung des Rechtsprinzips

Welche Regeln, welche Gebote sind heute der Minimalkonsens, der es ermöglichen würde, als gute Hausgenossen zusammenzuleben. Ohne dass eine fremde (deutsche, europäische, christliche) Identität übergestülpt und aufgezwungen würde. Nur damit sich für uns in unseren Gewohnheiten nichts ändern muss.

Auch uns wird es verändern, wenn wir versuchen müssen, das WESENTLICHE neu zu definieren. Und dieses auch gut erklären und begründen können. Und durchsetzen dürfen. Auch Paulus ging es ja nie um Laissez-faire. Sondern um die Suche nach dem Verbindenden. Heil schaffenden. Dass wir unsere Werte von Christus her empfangen und entwickeln werden, steht nicht im Wiederspruch dazu, dass nicht alle Christen werden müssen, die diese Werte leben.

Und für mich ergeben sich damit auch schon Grundlinien dafür, wie mit der Frage nach einer Mission unter Flüchtlingen umgegangen werden könnte. Offenheit für die Taufe, ja. Aber zuallererst eine Verständigung über das, was uns wichtig ist für ein gutes Leben miteinander. Der formelle Wechsel der Religion muss damit ja nicht zwingend identisch sein.

4
Liebe Gemeinde,
am Fest der Heiligen Drei Könige ist es wohl nun einmal so, dass das Weihnachtsgeschehen mal in einer solchen globalen Perspektive anzusehen ist,
nicht nur aus der Perspektive der heimischen Weihnachtsstube.

Mit den Weisen kommt die weite Welt in unsere Gewohnheiten und Rituale und wirbelt sie auf. Beschenkt werden wir von ihnen mit wertvollen Dingen, die wir vorher so noch nicht kannten.
Und: die Weisen zogen ja wieder weiter irgendwann.
Und es steht uns gut an zu überlegen, was wir denn gerne hätten, dass sie als Eindruck von uns mitnehmen in ihre alte Heimat. Die Weisen, wie die Flüchtlinge und Migranten in dieser in Bewegung gesetzten Welt.

Üben wir es doch, wenn wir Menschen, die unsere Tradition nicht kennen, erklären, was da abgebildet ist in unseren Krippen: an Freude, an Hoffnung, besonders für die Armen, an Respekt vor Fremden, die vielleicht schon längst vor uns wissen, was sich da bedeutendes abspielt mit dem Kind.

Und wenn es uns gelingt, uns mit in diese Krippenlandschaft hineinzustellen zu Hirten und Weisen aus dem Morgenland, dann ist sie da, die Mitgenossenschaft, von der Paulus träumte.

Und wir dürfen staunen, dass aus diesem Säuglingskörper einmal der Leib aller Menschen guten Willens und Gottes Wohlgefallens erwachsen wird, und alle umfasst, die sich von dieser Hoffnung anstecken lassen. Weltweit.
Denn unsere Welt braucht diese Einheit. Dringend.
Amen.




Montag, 25. August 2014
1
Liebe Gemeinde,
für meine Annährung an die Frage, wie ein produktiver Umgang mit fremder Religion aussehen könnte, habe ich ein Kapitel aus dem Buch Daniel gewählt. Es führt uns mitten hinein in den multireligiösen Kosmos des alten Orient. Nicht in eine Situation des ASYLS, sondern des EXILS: also eines unfreiwilligen Aufenthalts im fremden Land. Dahinter steht hier keine Flucht oder Vertreibung, sondern eine Verschleppung von Besiegten in das Land der Sieger.
Israel hatte nach der Eroberung Jerusalems 597 v. Chr. durch Nebukadnezar erleben müssen, dass die besten Köpfe, gerade der jungen Leute, nach Babylon als Beute mitgenommen wurden. Eine gängige Praxis, die unterlegenen Völker in ihrer Elite zu schwächen. Jeremia schreibt von 4.600 Personen. Diese konnten zwar in eigenen Kolonien sehr frei und selbstbestimmt leben. Doch das Vielvölkergemisch Babyloniens und der Assimilierungsdruck stellten für den ins Exil mitgebrachten Glauben eine ständige Bedrohung dar. Gerade weil eine soziale Integration möglich war. Wie bei Daniel.

Ich werde die (Vor-)geschichte zu Daniels wundersamem Überleben in der Löwengrube lesen als ein Modell von Missbrauch religiöser Differenz für politische Zwecke. Der größten Gefahr, der ich uns im Umgang mit der religiösen Pluralisierung und der Überlagerung von Religion und Politik ausgesetzt sehe.

2a
Hören wir den Beginn des 6. Kapitels im Buch Daniel:
1 und der Meder Darius übernahm die Königsherrschaft im Alter von zweiundsechzig Jahren.
2 Darius fand es für gut, über das Reich hundertzwanzig Satrapen einzusetzen,
die über das ganze Reich verteilt sein sollten.
3 Über diese wieder setzte er drei oberste Beamte, zu denen auch Daniel gehörte.
Ihnen sollten die Satrapen Rechenschaft ablegen, damit der König keinen Schaden erleide.
4 Daniel nun zeichnete sich vor den anderen obersten Beamten und den Satrapen aus;
denn in ihm war ein außergewöhnlicher Geist.
Der König erwog sogar, ihn zum höchsten Beamten des ganzen Reiches zu machen.

2b
Liebe Gemeinde!
Ehrlich gesagt staune ich jedesmal, wenn ich diese Geschichte vom Aufstieg Daniels zu höchster Macht und höchsten Ehren lese. Es ist so unglaublich ‚modern‘, wie jemand durch seine Klugheit und Leistung aufsteigen konnte. Vom Exilanten, zum obersten Beamten. Ich denke an Aygül Ötzkan in Hannover. Vom Migrantenkind zur Ministerin. Das ist heute noch Schlagzeilen und Debatten wert.
Dieser Babylonische Vielvölkerstaat scheint schon damals die kluge Einsicht verfolgt zu haben, dass in Fragen öffentlicher Verantwortung und der Organisation des Zusammenlebens anderes wichtig ist, als das richtige Bekenntnis in Glaubensfragen. Gute Arbeit definiert sich nach anderen Kriterien. Und Vertrauen und Loyalität sind auch über kulturelle und religiöse Grenzen möglich – wo eine dementsprechende Kultur der Offenheit etabliert ist.
Eine unglaublich moderne Trennung von Politik und Religion. Und eben auch eine gelungene Integration der Exilierten in den Staatsapparat. Und dass Daniel ein frommer Jude war, kam dem König eher zu Gute, da er seinen Verstand und seine Moral im Studium der Tora ausgebildet und geschärft hatte. Bildung als Schlüssel zur Integration. Schon damals.

Das christliche Europa hatte erst die desaströse Erfahrung des 30jährigen Krieges machen müssen, um die Unterscheidung von Religion und Politik als zivilisatorischen Wert zu entdecken. Und noch lange hat es gedauert, bis die Bürger eines Staates mit gleichen Rechten ausgestattet waren, und gleichen Chancen, unabhängig von ihrem religiösen Bekenntnis. Noch vor hundert Jahren, mit Beginn des ersten Weltkrieges, setzten z.B. die jüdischen Deutschen große Hoffnung darauf, als ‚gleichwertige Patrioten‘ mit in das große Gemetzel ziehen zu dürfen, um ihre staatsbürgerliche Anerkennung zu erhalten.

Aber natürlich war auch in Babylonien nicht alles eitel Sonnenschein in Religionsfragen. Sonst wäre die Geschichte Daniels schon zu Ende und ohne spannende Verwicklungen.

Ich lese uns den nächsten Abschnitt:

3a
5 Da suchten die obersten Beamten und die Satrapen einen Grund, um Daniel wegen seiner Amtsführung anzuklagen.
Sie konnten aber keinen Grund zur Anklage und kein Vergehen finden; denn er war zuverlässig; keine Nachlässigkeit und kein Vergehen konnte man ihm nachweisen.
6 Da sagten jene Männer: Wir werden keinen Grund finden, um diesen Daniel anzuklagen,
es sei denn, wir finden gegen ihn etwas wegen des Gesetzes seines Gottes.
7 Darum bestürmten die obersten Beamten und Satrapen den König und sagten zu ihm: ‚König Darius, mögest du ewig leben. 8 Alle obersten Beamten des Reiches, die Präfekten, Satrapen, Räte und Statthalter raten dem König, ein Dekret zu erlassen und folgendes Verbot in Kraft zu setzen: Jeder, der innerhalb von dreißig Tagen an irgendeinen Gott oder Menschen außer an dich, König, eine Bitte richtet, der soll in die Löwengrube geworfen werden. 9 Erlass dieses Verbot, o König, und fertige ein Schreiben darüber aus! Es soll nach dem unwandelbaren Gesetz der Meder und Perser unabänderlich sein.‘
10 König Darius unterzeichnete das Verbot.

3b
Wer oben landet in den Gefilden der Macht, liebe Gemeinde, der bekommt schnell die eisige Luft aus Kämpfen und Konkurrenz zu spüren. So auch Daniel. Missgünstige Neider und Gegner treten auf den Plan und beraten, wie sie ihn verdrängen und stürzen können. Obwohl seine Amtsführung tadellos ist. Kein Grund zu irgendeiner Beanstandung. Er scheint ohne Schwäche und Angriffspunkt. Nur eines Ausgenommen: sein Glaube.
Die andere, fremde Religion ist das strategische Einfallstor für Misstrauen und Demontage.
Der Text schreibt kein Wort, ob Daniels Gegner inhaltlich etwas auszusetzen hatten an seinem Glauben. Das ist ihnen völlig egal. Sie merken nur, dass sie den fremden Glauben mit seiner eigenen Grammatik benutzen können, um den Fremdling auszugrenzen aus dem Kollektiv der Staatsbürger. Seine religiöse Loyalität zu seinem Gott in Konkurrenz bringen zur politischen Loyalität zu seinem König, zu dem Herrscher, dem er in Treue dient.
Ein Mechanismus, der zu allen Zeiten leicht zu bedienen war: das Fremde lässt sich leicht zur Bedrohung phantasieren und inszenieren. Thilo Sarazzin läßt grüßen.

Dass sich der König Darius, der Daniel schätzt und achtet, in der Logik der unabänderlichen Gesetzte der Meder und Perser verfängt, mag der Erzähldramatik anheim gestellt sein.
Der eigentlich ‚gefährliche‘ Vorgang ist, dass die Verschwörer die Grundlagen der liberalen Staatsführung außer Kraft setzen, und die Sphäre der Politik mit religiösen Weihen versehen. Wenn die weltlichen Ordnungen von politischer Führung dermaßen vergöttlicht werden, dass keine andere Instanz mehr erlaubt ist, die eigene Werte setzt und diese kritisch in Anschlag bringen kann, dann ist der totalitäre Staat vollendet.

Wir haben die Konsequenzen in Deutschland schmerzlich erfahren. Und die Lehre daraus kann nicht nur sein, dass nicht EINE Religion oder EIN Glaubenssystem staatlich privilegiert werden darf, sondern dass auch der Staat sich nicht religiös und ideologisch überhöhen darf.
Und so ist es gleichermaßen beunruhigend, wenn sich die USA als ‚gods own country‘ zum gelobten Land erklären, wenn Islamisten von einem religiös fundierten Kalifatstaat träumen oder auch wenn Israel eine Anerkennung als ‚exklusiv jüdischer Staat‘ zur Vorbedingung von Friedensverhandlungen macht. Dahinter steckten tief antimoderne Homogenisierungs-phantasien, die den pluralistischen Wirklichkeiten des 21. Jahrhunderts nicht mehr entsprechen.

Und wie sehr in diesen angeblichen Religionsdebatten machtpolitische Interessen am Zuge sind zeigen so schräge Versuche wie die der politischen Gegner von Barack Obama, die mit den wildesten Verschwörungstheorien nachzuweisen versuchen, dass er eigentlich ein heimlicher Muslim ist, und damit untragbar, Verantwortung für ein christliches Land zu übernehmen. Realität hier und heute.

In der Geschichte Daniels erweist sich nun aber gerade sein Glaube als eine widerständige Kraft gegen den totalitären Anspruch seiner Feinde. Ich lese den nächsten Abschnitt:

4a
11 Als Daniel erfuhr, dass das Schreiben unterzeichnet war, ging er in sein Haus. In seinem Obergemach waren die Fenster nach Jerusalem hin offen. Dort kniete er dreimal am Tag nieder und richtete sein Gebet und seinen Lobpreis an seinen Gott, ganz so, wie er es gewohnt war.
12 Nun schlichen sich jene Männer heran und fanden Daniel, wie er zu seinem Gott betete und flehte.
13 Darauf gingen sie zum König und erinnerten ihn an sein Verbot; sie sagten: O König, hast du nicht ein Verbot unterzeichnet, nach dem jeder, der innerhalb von dreißig Tagen an irgendeinen Gott oder Menschen außer an dich, König, eine Bitte richtet, in die Löwengrube geworfen werden soll? Der König gab zur Antwort: Die Anordnung steht fest nach dem unwandelbaren Gesetz der Meder und Perser.
14 Da berichteten sie dem König: Daniel, einer von den verschleppten Juden, achtet weder dich, König, noch das Verbot, das du unterschrieben hast, sondern verrichtet dreimal am Tag sein Gebet.
15 Als der König das hörte, war es ihm sehr peinlich und er dachte nach, wie er Daniel retten könne. Bis Sonnenuntergang bemühte er sich, ihn freizubekommen.
16 Doch jene Männer bestürmten ihn und sagten: Bedenke, König, es ist bei den Medern und Persern Gesetz, dass jedes Verbot und Dekret, das der König erlässt, unabänderlich ist.
17 Darauf befahl der König, Daniel herzubringen, und man warf ihn zu den Löwen in die Grube. Der König sagte noch zu Daniel: Möge dein Gott, dem du so unablässig dienst, dich erretten.

4b
Daniel tappt in die gestellte Falle. Nicht aus Dummheit.
Sondern weil er sich seinen Gott nicht von menschlichen Gesetzen verbieten lässt.
Lob und Dank und Bitte sind an den zu richten, der das Leben schenkt. Und das ist nicht der König. Nicht WAS Daniel glaubt durchbricht störend die totalitäre Ordnung, sondern DASS er glaubt. Dass er es wagt, andere Maßstäbe weiter gelten zu lassen, als die, die Menschen setzen. Er betet unverdrossen weiter. Privat zwar. Aber nicht verborgen. Und nimmt Lebensgefahr billigend in Kauf.
Diese Form der Widerständigkeit von Religion und Glaube würdigen zu können - auch das war ein schmerzhafter Lernprozess für uns im 20. Jahrhundert.
Im Glauben entzieht sich der Kern des Menschen dem äußeren Zugriff. Nicht nur die Gedanken, auch die Gebete sind frei.
Mächtige hätten das gerne: dass Religion und Kirchen allein ihrer Legitimation dienen.
Aber Glaube muss wesenmäßig etwas sein, das FREMD bleibt, unkontrollierbar, und dadurch frei. Das ist die Stärke der Religion, dass sie auch als Ressource dient zum Widerstand.
Dass sie eine kritische Plattform bietet, von der aus anders gedacht und gehandelt werden kann. Und die Mut und Kraft gibt, zum widerstehen. Wie bei Sophie Scholl. Oder bei den aufständischen Jüdinnen und Juden im Warschauer Ghetto.

Aber diese Unkontrollierbarkeit macht Religion immer auch ein wenig unheimlich. Was bewegt den anderen EIGENTLICH? Im Kämmerlein? Vor seinem Gott?
Die prinzipielle Fremdheit von Religion braucht ein Gegengewicht in ‚vertrauensbildenden Maßnahmen‘. Die Erfahrung von Verträglichkeit und Verlässlichkeit im sozialen Miteinander.
Der König Darius hatte gelernt, David zu vertrauen. Religiös trennte sie vermutlich Welten. Aber durch die gemeinsame Arbeit am Gemeinwesen konnte er sagen: ‚Möge dein Gott Dich erretten.‘ Er wünscht Daniel einen starken, schützenden und wirkmächtigen Gott. Auch oder gerade, weil es nicht sein eigener ist. Und wie fremd er ihm auch sein mag.

Ist das ein Satz, den wir so wie einen Segen zu Menschen fremden Glaubens sagen könnten:
Möge dein Gott dich erretten? Ohne Vereinnahmung, voller Wohlwollen, dem Leben dienend?

Liebe Gemeinde,
das glückliche Ende der Geschichte ist bekannt, aber wert noch einmal im Wortlaut zu Gehör zu kommen:

5a
18 Und man nahm einen großen Stein und wälzte ihn auf die Öffnung der Grube. Der König versiegelte ihn mit seinem Siegel und den Siegeln seiner Großen, um zu verhindern, dass an der Lage Daniels etwas verändert würde.
19 Dann ging der König in seinen Palast; fastend verbrachte er die Nacht; er ließ sich keine Speisen bringen und konnte keinen Schlaf finden.
20 Früh am Morgen, als es gerade hell wurde, stand der König auf und ging in Eile zur Löwengrube.
21 Als er sich der Grube näherte, rief er mit schmerzlicher Stimme nach Daniel und fragte: Daniel, du Diener des lebendigen Gottes! Hat dein Gott, dem du so unablässig dienst, dich vor den Löwen erretten können?
22 Daniel antwortete ihm: O König, mögest du ewig leben.
23 Mein Gott hat seinen Engel gesandt und den Rachen der Löwen verschlossen. Sie taten mir nichts zuleide; denn in seinen Augen war ich schuldlos und auch dir gegenüber, König, bin ich ohne Schuld.
24 Darüber war der König hoch erfreut und befahl, Daniel aus der Grube herauszuholen. So wurde Daniel aus der Grube herausgeholt; man fand an ihm nicht die geringste Verletzung, denn er hatte seinem Gott vertraut.
25 Nun aber ließ der König die Männer herbeiholen, die Daniel verklagt hatten, und ließ sie mit ihren Kindern und Frauen in die Löwengrube werfen. Sie waren noch nicht am Boden der Grube angelangt, da stürzten sich die Löwen auf sie und zermalmten ihnen alle Knochen.
26 Daraufhin schrieb König Darius an alle Völker, Nationen und Sprachen auf der ganzen Erde: Friede sei mit euch in Fülle!
27 Hiermit ordne ich an: Im ganzen Gebiet meines Reiches soll man vor dem Gott Daniels zittern und sich vor ihm fürchten. Denn er ist der lebendige Gott; er lebt in Ewigkeit. Sein Reich geht niemals unter; seine Herrschaft hat kein Ende.
28 Er rettet und befreit; er wirkt Zeichen und Wunder am Himmel und auf der Erde; er hat Daniel aus den Tatzen der Löwen errettet.
29 Daniel aber ging es gut unter dem König Darius und auch unter dem Perserkönig Kyrus.

5b
Gott schickt Daniel wundersame Rettung. Ein Engel hält die Löwen von ihm ab, um Daniels Gottvertrauen zu belohnen und seine Unschuld zu beweisen.
Und kaum der Grube entstiegen kommt das große Finale: die Feinde werden grausam gerichtet und der Gott Israels triumphiert und steigt auf in den staatlich anerkannten Götterkosmos und darf aufgrund seiner Rettermacht nun von allen verehrt werden, wärmstens vom König empfohlen. Und wenn Daniel nicht gestorben wäre, so lebte er noch heute.
Kindern gefällt dieses märchenhafte Ende der Geschichte. Und so ist Daniel wohl der wichtigste Held auf Kinderbibeltagen.

Aber was hier etwas schlicht als Frage nach der ‚Mächtigkeit‘ und dem ‚Sieg‘ eines Gottes daher kommt, bleibt auch für uns heute eine herausfordernde Perspektive:
Welcher Glaube schafft es, die Löwen zu bändigen, alle die lebensfeindlichen Mächte, die uns Menschen bedrohen können. Und diese Löwen haben viele Namen: Machtgier, Hass, Gewalt, Verblendung, Fanatismus, aber auch Gleichgültigkeit, Überdruss, Ignoranz, Verzagtheit.
Es kann nicht nur darum gehen, dass MEIN Gott MEIN Leben rettet. Das wäre eine verkürzte Lesart. Indem Darius den Gott Israels zur Ehre der Altäre erhebt, gesteht er ihm eine lebensfreundliche Potenz zu. Damit kann der Glaube heraus aus dem rein privaten Kämmerchen des Daniel; eintreten in den öffentlichen Raum, in dem um die Humanität einer Gesellschaft gerungen wird. Mit Hilfe der Kraft der Religionen. Und der König traut verschiedenen Religionen zu, humanisierend zu wirken. Er hat sich bestimmt nicht bekehrt zum Gott Israels. Aber er kann ihn nun anerkennen als etwas, das mehr ist als eine Privatsache seines Spitzenbeamten.

Die Fremdheit der fremden Religion ist nun nicht mehr die Gelegenheit zur politischen Ausgrenzung. Sie wird ernst genommen als Möglichkeit, Gesellschaft zu gestalten und ein ‚Gutes Leben‘ für alle zu befördern.

Würden wir mit einem solchen Zutrauen (statt dem eingeübten Misstrauen) auf fremde Religionen und Menschen fremder Religion zugehen, was würd das nicht an Austausch und gemeinsamen Überlegungen für ein ‚Gutes Miteinander’ freisetzen! Und wir könnten nicht nur den Menschen als Opfern und Leidenden Asyl geben, und die Fremdheit ihrer Religion als zwangsläufige Begleiterscheinung erdulden, sondern vielleicht sogar ihren Göttern zugestehen: auch sie können Leben retten. Und haben dafür Lob und Dank verdient.
So wie der Gott Daniels, der der unsere ist.

Amen.




Montag, 9. Juni 2014
1
Liebe Gemeinde,

endlich traut er sich, wieder den Mund auf zu machen!

Ja, früher, da war er unter den Jüngern als Großmaul verschrien.
Der Petrus, der immer vorne dran sein wollte.
Zu allem seinen Senf dazugeben musste.
Und der schnell mal ein Versprechen über die Lippen brachte,
das er dann doch nicht gehalten hat.

Eigentlich war es ja auch ein besonderer Jünger:
seine Begeisterungsfähigkeit, eine Gottesgabe!
Spontan war er, hellsichtig, einsatzbereit.

Petrus war es, der als erster Jünger erkannte und bekannte:
Du, Jesus von Nazareth, Du bist der Gottgesandte,
der Messias, der Christus,
auf den wir so lange gewartet haben,
damit sich unser Leben und diese Welt erneuern.

Aber dann war er sehr kleinlaut geworden,
als er nicht den Mut und die Kraft hatte,
bei Jesus zu bleiben in Todesgefahr.
Wie eine große Lähmung war es über ihn gekommen
und über die anderen Jünger.
Selbst die Oster-Botschaft: Jesus ist nicht tot!,
die musste sich erst einmal setzen.

50 Tage hat das gedauert, erzählt die Bibel.
Aber jetzt, jetzt lebt er wieder auf, der Petrus!
Vom stürmischen Pfingstgeist in Schwung gebracht,
stürmt er rauf auf die öffentliche Bühne.
Zurück zur alten Berufung: Menschen fischen!
Und was macht er als allererstes?
Er hält den Menschen in Jerusalem eine Standpauke,
die sich gewaschen hat.


3
Hören wir also ‚Die Pfingstpredigt des Petrus‘ aus Apostelgeschichte 2:

22 Ihr Männer von Israel, hört diese Worte:
Jesus von Nazareth,
von Gott unter euch ausgewiesen durch Taten und Wunder und Zeichen,
die Gott durch ihn in eurer Mitte getan hat, wie ihr selbst wisst -
23 diesen Mann, der durch Gottes Ratschluss und Vorsehung dahingegeben war,
habt ihr durch die Hand der Heiden ans Kreuz geschlagen und umgebracht.

32 Diesen Jesus hat Gott auferweckt; dessen sind wir alle Zeugen.
33 Da er nun durch die rechte Hand Gottes erhöht ist
und empfangen hat den verheißenen Heiligen Geist vom Vater,
hat er diesen ausgegossen, wie ihr hier seht und hört.

36 So wisse nun das ganze Haus Israel gewiss,
dass Gott diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt, zum Herrn und Christus gemacht hat.

37 Als sie aber das hörten, ging's ihnen durchs Herz
und sie sprachen zu Petrus und den andern Aposteln:
Ihr Männer, liebe Brüder, was sollen wir tun?

38 Petrus sprach zu ihnen:
Tut Buße
und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi
zur Vergebung eurer Sünden,
so werdet ihr empfangen die Gabe des Heiligen Geistes.
39 Denn euch und euren Kindern gilt diese Verheißung
und allen, die fern sind,
so viele der Herr, unser Gott, herzurufen wird.

3
Liebe Gemeinde,
ich finde es aufregend, wie dieser Text
eine ganz besondere Dimension von Pfingsten herausstreicht:
den Mut zur freien Rede.

Da stellt sich einer hin, ungeschützt,
und sagt den Menschen ins Gesicht, was er denkt.

(Und nicht erst seit Rosa Luxemburg ist bekannt:
Das laut zu sagen, was ist,
bleibt die revolutionärste Tat.)

Und er sagt zweierlei:

Er sagt:
Ihr habt Jesus getötet.
Ihr seid schuldig geworden,
weil ihr seine Botschaft von der anbrechenden Herrschaft Gottes zum Verstummen bringen wolltet.
Ihr seid verstockt,
weil ihr euch auf den Ruf zu einem neuen Miteinander hören wolltet.
Ihr wolltet Euch nicht verändern zu lassen von Gottes Liebe,
ihr wolltet, dass Gottes Zukunft nicht stattfinden kann.
Und alles bleibt wie es ist.

Und er sagt:
Jesus ist und bleibt der Herr.
Er hat noch im Tode Recht behalten und setzt seine Mission fort.
Mit uns geschmähten Jüngern.
Und wenn ihr wollt: auch mit Euch.
Veränderung ist möglich.
Kehrt um, steuert um, verwandelt Euch.

Was Petrus da hinlegt,
ist eine vorwurfsvolle Bußpredigt
und zugleich eine einladende Missionspredigt.
Peitsche und Zuckerbrot.

Ob er so die Herzen der Menschen erreichen konnte?

Lukas zumindest beschreibt es so:
Und es ging ihnen durchs Herz…

4
Liebe Gemeinde,

im vergangenen November fand in Korea ein Großereignis der Weltchristenheit statt:
die 10. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen.
Schon allein das ist ein quasi pfingstliches Ereignis,
wenn Vertreter_innen der 350 Mitgliedskirchen aus 120 Ländern zusammenkommen
und sich trotz der vielen Muttersprachen in Geschwisterlichkeit austauschen.
Die begeisterten Berichte der Delegierten lassen etwas von dieser Seite des Pfingstwunders ahnen.

Eines der wichtigsten Themen, das dort besprochen wurde, war:
ein neues Verständnis von Mission zu formulieren.
Wie können wir heute unseren Glauben in der Welt bezeugen?
Und das sieht im 21. Jahrhundert denn doch etwas anders aus,
als es noch für Petrus und die erste Gemeinde war.

Sie mussten sie erst einmal Kirche werden. Viele neue Menschen gewinnen.
Das Evangelium ausbreiten. Von Jerusalem bis an die Enden der bekannten Erde.
Später sind die abendländischen Missionare in dieser Bewegung geblieben:
Sie haben im Windschatten der Abenteurer und Eroberer den Glauben verbreitet,
nicht immer so friedlich und aufs reine Wort vertrauend,
wie es Petrus in unserer Geschichte tat.

Heute ist das Christentum ausgebreitet.
Es gibt keine weißen Flecken auf der Landkarte mehr.
Und doch gilt es weiter, Menschen davon zu überzeugen,
dass der Glaube an Christus das Leben zum Guten verändern kann.

Und da kommen von der Vollversammlung aus Korea plötzlich ganz aufregend neue Töne:
Nicht die innere Umkehr der einzelnen Menschen allein kann das Heil der Welt schaffen.

Eine solche, rein individuelle Erlösungshoffnung wirkt zynisch,
wenn um uns herum die Natur unaufhaltbar weiter geschädigt wird
und die sozialen Verwerfungen zunehmen.

Umkehr kann nicht nur eine Hinwendung zum Glauben sein,
sie muss auch eine Abwendung sein von den lebensbedrohlichen Mächten,
denen wir mit unserem Modell des Dauerwachstums von Produktion und Konsum anhängen.

Der Heilige Geist wird nicht nur als Kirchengründer gebraucht,
sondern als Kraft der großen Umgestaltung, der großen Transformation.

5
Liebe Gemeinde,
in der Fachdebatte um Klimawandel und Nachhaltigkeit hat sich dieser Begriff gebildet,
der die Aufgabe beschreiben soll, vor der wir stehen.
‚Die große Transformation‘.

Es gab schon einmal eine große Transformation.
Als die kapitalgesteuerte industrielle Lebensweise begonnen hat,
alle Lebensverhältnisse umzuformen und zu durchdringen.

Und wir halten die Trümmer dieser Transformation in Händen.
Alles droht uns zur handelbaren Ware zu werden.
Zum Kaufobjekt. Zum Konsumgegenstand.
Und diese Logik schleicht sich hinein bis in alle Beziehungen.
Zu Mensch und Natur.
Die Berechnung des eigenen Vorteils steht an erster Stelle.
Was scheren mich die Ausgeschlossenen,
die nicht länger mithalten können oder gebraucht werden?
Was schert mich, was mit der Natur in 100 Jahren sein wird?

Wir haben viele Techniken entwickelt,
die Augen zu verschließen vor dem, was ist.
Was sich abzeichnet.
Was wir zu verantworten haben.

Der Bußruf des Petrus zu Pfingsten, die drängende Einladung zur Umkehr,
sie gehört heute doch auch wieder zu dem, was an Pfingsten gesagt werden muss.
Eine Kirche, die nicht so ruft, dient nicht dem Gott des Lebens.

Trauen wir uns, das so zugespitzt öffentlich auszurufen:
So kanns nicht weitergehen.
Ihr lebt auf Kosten anderer.
Ihr habt die Krisen selbst herbeigeführt.
Ihr vernichtet die Lebenschancen aller künftigen Generationen.
Kehrt um, tut Buße. So formuliert es die Bibel.
Heute könnte man vielleicht sagen: transformiert Euch!

Und es bedarf großen Muts und kaum abzuschätzender Energie,
wenn wir diese Entwicklungen noch umsteuern wollen.
Groß ist sie, die Aufgabe der neuerlichen Transformation.
Und vieles wird nicht beim Alten bleiben können.

6
Liebe Gemeinde,
doch bei aller ernsten Warnung,
kommt die Missionserklärung aus Busan sehr ermutigend daher.
Nicht nur im Geist der ernüchternden Wahrheit,
sondern noch viel mehr im Geist der Kraft zur Veränderung.

Der Geist Gottes ist ja als Atem des Lebens von Anbeginn die Kraft in der Schöpfung.
Das etwas lebt und gedeiht und fortbesteht.

Und wir sind schon immer mittendrin in Gottes Plan für diese Welt,
die unheiligen Geister zu bannen
und das Leben zu heilen und zu heiligen.

Gott will die Welt verwandeln und braucht uns dazu.
Und in Christus, dem Geistgezeugten und Geistbegabten, nimmt er uns in seinen Dienst.
Und der heilige, pfingstliche Geist wird die Weisheit und die Kraft dazu geben.

Der Begriff, den das Missionspapier aus Busan dafür findet, klingt etwas spröde:
Es spricht von ‚transformativer Spiritualität‘.
Also: leben im Geist, der uns verwandelt UND das Leben so verwandelt, dass es Zukunft hat.

Was für eine Vision: Kirche als Agent des Wandels.
Als Avantgarde einer ökosozial gerechten und friedlichen Welt!
Als eine, die ermutigt und befeuert,
nicht zaudert oder bremst.
Und so kann Mission für die Kirche heute nicht einfach Mitgliederrekrutierung sein.
Selbstsicherung darf es nicht sein.

Sondern das Einsteigen und Einladen in eine weltverwandelnde Bewegung.
Die ökumenische Vollversammlung hat eingeladen, die sieben Jahre bis zum nächsten Treffen als einen großen Pilgerweg für Friede und Gerechtigkeit zu gestalten.

Pilgern – damit haben Sie hier ja Erfahrung in St.Jakob.
Das ist ein Unterwegssein, das nicht nur das Ziel im Auge hat.
Sondern darauf achtet, in welchem Geist ein Weg gemeinsam gegangen wird.
Da gibt es Aufgaben für Große und Kleine, Starke und Schwache.
Und die Erfahrung, dass der Geist unseres Gottes ein Geist des Lebens ist.

7
Übrigens: Unser Landesbischof war Delegierter in Busan und hat diesem Papier zugestimmt.
Und als Petrus fertig war mit seiner Predigt, sollen sich 3000 Menschen haben taufen lassen.
Wenn das keine Zeichen der Ermutigung sind!
Amen.




Sonntag, 29. Dezember 2013
Liebe Gemeinde,

mit den Türen zum Paradies ist das so eine Sache.
Das hat Gerhard Polt sehr präzise auf den Punkt gebracht als er formulierte:
‚Ein Paradies ist immer dann, wenn einer da ist, der wo aufpasst, dass keiner reinkommt.‘

Ein Paradies, das nicht zugangsbeschränkt ist, wäre das überhaupt noch ein Paradies?
Wenn keine Mauer drumherum ist um den geheimen oder verbotenen Garten?
Wenn kein Petrus am Himmelstor die Einlasskontrolle vornimmt?
Wenn ein jeder einfach jederzeit hineinspazieren kann und dich breit macht wie in einem Volkspark, ob Sünder oder nicht?

Ist ein Paradies denkbar, das nicht begehrt und exklusiv zugleich ist?

1
Verschlossene Türen und Räume spielen in unserem Weihnachtsbrauchtum eine wichtige Rolle.
Oft schon Tage vor dem Heiligen Abend wird die Wohnzimmertür verriegelt.
Das Christkind braucht ja Zeit und Ruhe, den Christbaum zu schmücken
und die Geschenke herbeizufliegen und unter dem Baum zu drapieren.

Während draußen scheinbar harmlos der Adventsalltag weitergeht, wissen alle:
da drinnen entsteht Schritt für Schritt, Stunde für Stunde die Pracht, die sich dann am Weihnachtsabend offenbart:
das Silberglöckchen erklingt, die Tür geht auf, die Kerzen funkeln von der Edeltanne, die Geschenke sind im Flackern zwischen Licht und Schatten erst schemenhaft erahnbar,
aber viele sind es wohl und riesige!
Und wer durch die Tür ins Zimmer tritt ist endlich mittendrin: im Weihnachtsparadies!

Es muss wohl ein ähnlich festliches Gefühl gewesen sein, als Howard Carter 1922 bei seinen archäologischen Expeditionen in Ägypten die Grabkammer des Tutanchamun entdeckte und betrat.
Gold und Glanz und Grabbeigaben.
Und wir Nürnberger können das ja derzeit auch selbst nochmal ausprobieren, wie das wohl so gewesen sein mag….

Heut schleußt er wieder auf die Tür –
das Paradies als Schatzkammer voller verlockender Dinge.
Aber ganz vermag dieses Bild doch nicht zu befriedigen.
Schatzkammern, das sind Orte, die man bald wieder verlässt.
Schatzkammern werden geplündert.
Die begehrten Objekte werden mitgenommen – nach Hause.

Ich denke jetzt nur kurz an die Neueröffnung des Möbel-Höffner in Fürth:
Auch ein Einkaufs- und Schnäppchenparadies, das von den Menschen gestürmt und geplündert wurde, wie die Zeitung gestern berichten konnte. Das Glück im Einkaufswagen. Zum Mitnehmen.

Auch das Weihnachtszimmer erhält seine profane Gestalt zurück,
nachdem die Geschenke an andere Orte verschleppt sind,
und der Baum abgeschmückt
(früher wurde dieser tatsächlich von den Naschereien geplündert).

Und auch der paradiesesgleiche Stall in Betlehem:
Irgendwann war er wieder finster und leer und kalt und ohne Engelsklänge.

Die Tür zum Paradies? Sie muss noch irgendwie anders sein!

2
Liebe Gemeinde,
an unserer Tür zum Lorenzer Laden, drüben, da ist ein kleiner Aufkleber angebracht.
Eine offene Tür ist darauf zu sehen, ein Strichmännchen rennt durch diese Tür ins Helle.
NOTEINGANG steht daneben.

Diese Aufkleber stammen aus den Tagen, in denen Menschen,
die nicht mitteleuropäisch, weiß und inländisch aussahen,
Angst haben mussten, Adressaten von rassistischen Übergriffen zu werden.
Ausländerhatz als perverser Sport von rechtsradikalen Schlägern.
Das ist noch nicht sehr lange her.

Wohl denen, die da offene Türen fanden.
Schutzräume, die für sie aufgeschlossen waren.
Und Menschen, die aufgeschlossen sind für sie.
Die zusagen, nicht die Schotten dicht machen, wenn es brenzlig wird. Und bedrohlich.

Denn gerne lassen wir das, was das Behagen stört und das Vergessen und Verdrängen,
draußen vor der Tür.

So wie damals in dem Theaterstück von Wolfang Borchert, von 1947.
Das hieß auch: draußen vor der Tür.
Da war es der Kriegsheimkehrer Beckmann
mit seinen traumatischen Erfahrungen und mit seinen unangenehmen Fragen und mit seiner Verantwortung, die er zurückgeben wollte,
die draußen bleiben sollten aus den guten Stuben derer, die sich schnell wieder eingerichtet haben in den neuen Verhältnissen.
Der Tod ist in dem Stück der einzige der sagt, dass seine Tür immer offen stehe.

Heut schließt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis.

Wer entscheidet heute darüber,
wer rein darf?
Die Lampedusaflüchtlinge.
Die Rumänen und Bulgaren.
Auf der Suche nach Schutzräumen, neuer Heimat, Wohlergehen.
Woller mer se reinlasse -
in unsere Paradiese der Sozialsysteme?

Petrus sein, ist da keine schöne Rolle.
Aber wenn es die Alternative ist, sie zurückzuschicken in ihre großen oder kleinen Höllen,
aus denen sie sich aufgemacht haben?

Sicher: viele machen sich auch Illusionen über die guten Stuben,
in die sie zu kommen hoffen?
Auch der Westen oder Deutschland sind keine Paradiese im biblischen Sinn.
Aber selbst das ist eben relativ und kein Grund, die Wohlstandstore verschlossen zu halten…

3
Liebe Gemeinde,
neben den Schatz- und Schutzkammern gibt es noch eine dritte Art von verschlossenen Räumen,
die mir einfallen:
die Räume, in die wir uns selbst einschließen, und damit ausschließen von vielen Erfahrungen und Wirklichkeiten und Begegnungen.

Vor drei Jahren lief im Kino ein Dokumentarfilm mit dem Titel:
‚Auf der sicheren Seite‘.
Es ging darin um das Phänomen der ‚gated communities‘,
geschlossener Gesellschaften,
oder besser: Siedlungen der Selbstwegschließung.


Es sind Wohnsiedlungen, die mit einer Mauer, Stacheldraht, Überwachungsanlagen und Pförtner von ihrer Umwelt abgetrennt sind. Künstliche Paradiese wohlhabender Bürger.
Ohne den Lärm und das Chaos Indiens, ohne die Kriminalität Südafrikas, ohne die Anonymität amerikanischer Großstädte.
Die Sehnsucht nach dem Dörflichen, Kultivierten, Ruhigen, Geschützen,
kippt um in Ghettos der Langeweile und der Ignoranz.

Ein Disneyworld für Erwachsene, wo man nur hoffen kann, dass sich die Tore öffnen,
nicht dass die Ausgeschlossenen herein kommen,
sondern dass die Eingeschlossenen sich hinauswagen ins Leben,
das eben nicht sauber und gefahrlos und geordnet ist,
sondern schmutzig, wild und chaotisch.

Gefängnistore, die man von innen geschlossen hält und auch von innen öffnen muss.

Heut schließt er wieder auf die Tür vom falschen Paradeis…
Wohl dem, der es wieder vermag, anderen offen in die Augen zu sehen
und sich ihnen als Mitmenschen verbunden zu fühlen!


4
Liebe Gemeinde,
wenn wir über das Öffnen solcher Türen reden,
so sind wir schnell mitten im Feld christlicher Utopistik.

Bei Urszenen und Urwünschen von paradiesisch phantasierten Welten
Sei es am Anfang oder am Ende der Zeit:
Gibt es die Tür, die die Rückkehr in alte Paradiesgärten ermöglicht,
aus denen wir vertrieben sind?
Oder gibt es wenigstens die Tür, an der uns Petrus später einmal einlässt in die himmlischen Gefilde der Engel und der Harfen und Gesänge?

Solche Türen haben immer etwas von Schleusen in eine Fantasy-Welt,
ob das nun bei Alice im Wunderland das Hasenloch
oder bei Harry Potter der Bahnsteig 9 ¾ ist.
Türen als Übergang zwischen zwei Räumen unterschiedlicher Realität.

Wenn die Bibel aber von der offenen Tür spricht,
dann geht es oftmals um einen ganz realistischen Übergang hier in dieser Welt,
von einem begrenzten Raum zu einem offenen Raum,
von einer beschädigten zu einer geheilten Wirklichkeit.

Ein schönes Beispiel dafür steht in der Apostelgeschichte:
Dort verkünden Paulus und Barnabas nach der Rückkehr von ihrer Missionsreise der Gemeinde in Antiochia, wie es ihnen erfolgreich gelungen war,
den Heiden die Tür des Glaubens aufzutun.

Ist das nicht ein schönes Bild?
Zum Glauben zu kommen als ein Schritt in neue Räume.
Schon hier und jetzt, nicht erst in ferner Zukunft.
Und eine Öffnung, die endlich wahr macht, was die Profeten Israels schon lange verheißen hatten:
Dass auch die Völker zum Gott Israels bekehrt werden und ihn anbeten.
Nicht länger sind sie ausgeschlossen von Gottes Erwählung und seiner Gnade.
Durch die frohe Botschaft vom Messias Jesus.

Seine Geburt, seine Menschwerdung:
hier schließt sie neu auf die Tür zum Paradies des Glaubens – für alle!

5
Das Johannesevangelium geht sogar noch einen Schritt weiter:
Da ist Christus nicht nur der Tür-Öffner. Sondern die Tür selbst.

Hören wir diese Verse aus dem 10. Kapitel:

1Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht zur Tür hineingeht in den Schafstall, sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Räuber.
2Der aber zur Tür hineingeht, der ist der Hirte der Schafe.
3Dem macht der Türhüter auf, und die Schafe hören seine Stimme; und er ruft seine Schafe mit Namen und führt sie hinaus.
4Und wenn er alle seine Schafe hinausgelassen hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm nach; denn sie kennen seine Stimme.
5Einem Fremden aber folgen sie nicht nach, sondern fliehen vor ihm; denn sie kennen die Stimme der Fremden nicht.
6Dies Gleichnis sagte Jesus zu ihnen; sie verstanden aber nicht, was er ihnen damit sagte.
7Da sprach Jesus wieder: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen.
8Alle, die vor mir gekommen sind, die sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben ihnen nicht gehorcht.
9 Ich bin die Tür; wenn jemand durch mich hineingeht, wird er selig werden und wird ein- und ausgehen und Weide finden.




Eine solche Tür,
die beides eröffnet,
das geschützt sein drinnen und das weiden draußen,
durchlässig nach beiden Seiten,
nicht exklusiv,
sondern eine Tür zum Seligwerden, zum Himmel auf Erden für alle.

Da wundert es nicht, wenn bei dessen Geburt sich der Himmel auftut und alle Engel singen.
Denn die Türen zwischen den Menschen stehen wieder offen.
Keiner muss draußen bleiben vor der Tür, der draußen ist.
Alle dürfen sich herauswagen, die drinnen sind.
Und es ist die Fülle an Leben vorhanden für alle, mehr als in jeder Schatzkammer.

Nach Weihnachten, nach Jesu Geburt ist der Satz von Gerhard Polt nicht mehr richtig.
Denn nun muss es heißen:
Ein Paradies ist immer dann, wenn einer da ist, der wo aufpasst,
dass alle
hereinkommen.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist al all unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen in Christus Jesus.
Amen.




Donnerstag, 12. September 2013
Als er aber nahe an das Stadttor kam, siehe, da trug man einen Toten heraus, der der einzige Sohn seiner Mutter war, und sie war eine Witwe. (…) Und als sie der Herr sah, jammerte sie ihn und er sprach zu ihr: Weine nicht!
Lk 7, 12-13

In meiner Erinnerung scheint es mir, als hätte ich das Wort ‘Witwe’ als Kind über die Fernsehwerbung kennengelernt. ‚WWK – eine starke Gemeinschaft‘ war der Slogan einer Versicherungsgruppe. Und neugierig wie ich war, wollte ich dahinterkommen, was es mit dem Buchstabenkürzel auf sich hatte. Witwen- und Waisenunterstützungskasse, erfuhr ich, war der ursprüngliche Name. Denn die Witwen und Waisen, die haben eben niemanden mehr, der sie versorgen kann, und brauchen Geld zum Leben.

In der Stadt Nain, in biblischen Zeiten, da gab es noch keine Unterstützungskasse. Witwe zu sein war ein schwerer Stand. Glücklich die Frau, die zumindest noch einen Sohn hatte, der ihr durch seine Arbeit das täglich Brot beschaffen konnte. Nur auf diesem Hintergrund entfaltet sich die Dramatik der Szene, die Lukas beschreibt. Die Trauer um das verstorbene Kind ist nur eine Dimension der Not. Der Absturz in die völlige Ungesichertheit ist fast noch schlimmer, denn er bringt die ‚verwaiste Witwe‘ an den Rand der eigenen Todesnot.

Für mich klingen in dieser Geschichte immer die Worte Jesu am Kreuz mit, wie sie bei Johannes überliefert sind. Er spricht zu Maria und Johannes, die in keiner verwandtschaftlichen Beziehung zueinander waren: Siehe, das ist deine Mutter! Siehe, das ist dein Sohn. Er sorgt noch im Sterben dafür, dass seine Mutter einen Versorger und Unterstützer hat. Jesu Sterben und Auferstehen überwand nicht nur den Tod als lebensfeindliche Macht, es stiftete auch eine neue Solidargemeinschaft unter den Seinen.

Und so hat auch die spektakuläre Totenauferweckung Jesu in Nain zwei Lesarten: sie vertreibt den Tod, zumindest den vorzeitigen Tod, entgegen aller Natur und Erwartung. Aber sie ist auch die Lebens-Sicherung für die hilflose Mutter, die ohne den Sohn selbst nicht weiter leben könnte.
Das Mirakulöse, Übernatürliche tritt zurück hinter die Demonstration der Solidarität mit dem Leben.
Die Gemeinschaft der Familie Gottes, sie könnte eine Unterstützungskasse überflüssig machen, als eine starke Gemeinschaft, die die Schwachen trägt.




Mittwoch, 28. August 2013
Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!
1. Mose 28, 16

Im Spektrum christlicher Exerzitienarbeit hat sich in den letzten 15 Jahren nach und nach ein Format etabliert, das die Suche nach den Orten von Gottes Gegenwart in den Mittelpunkt stellt. Es sind die ‚Exerzitien auf der Straße‘, die der Berliner Jesuitenpater und ehemalige Arbeiterpriester Christian Herwartz mit Menschen entwickelt hat, die sich nicht mit einem Text in ein Zimmer zurückziehen wollten, um Gott näher zu kommen. Sondern sie wollten hinaus auf die Straßen der Großstadt.

Und so entstand ein Übungsweg ganz eigener Prägung, in dem es gilt, sich für zehn Tage auf die Suche zu machen. Die öffentlichen Räume einer Metropole zu durchstreifen, um eigenen Lebensthemen und Sehnsüchten auf die Spur zu kommen. Die geistliche Dimension von sozialen Brennpunkten, historischen Stätten, Konsumwelten zu erkunden. Sich führen zu lassen, wohin es einen treibt und zieht. Offen zu werden für Begegnungen mit fremden Menschen. Eine innere Standortbestimmung vorzunehmen im Wechselspiel mit Widerfahrnissen von außen. ‚Heilige Orte‘ zu entdecken, die mich und meinen Glauben anrühren und ihm Impulse geben. Gott suchen und finden in der Stadt.

Der biblische Leittext für diese Exerzitien ist normalerweise die Geschichte vom brennenden Dornbusch, der Mose zu erkennen hilft, an einem Ort der besonderen Gottesgegenwart und Gotteserkenntnis zu sein. Aber letztlich geschieht mit Jakob auf seiner Reise zwischen Beerscheba und Haran nichts anderes. Ein scheinbar profaner Ort, an dem er sich über Nacht niederlässt, wird zur Stätte einer Offenbarung. Einer Botschaft, die verändernd in sein Leben hineinspricht.

Es ist die Erfahrung eines ‚neuen Sehens‘, das die Exerzitien auf der Straße für viele Menschen zu einer Erweckungserfahrung macht. Die Stätten, die wir Tag für Tag ohne Achtsamkeit durcheilen, verändern durch die geistliche Aufmerksamkeit ihren Charakter, lassen staunen, ermöglichen Begegnung, beginnen zu sprechen. Was wäre das für eine Kirche, die nicht versucht, die Menschen in ihre Mauern und Veranstaltungen zu locken, sondern ihnen dazu verhilft, an von ihnen entdeckten Orten sagen zu können: Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht?




Samstag, 24. August 2013
(erschienen als 'klartext' in den ZeitZeichen 8/2013)

Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut.
Mt 6, 3

In Zeiten, in denen die Erkenntnisse der Public Relations nicht nur die Sozialkonzerne, sondern auch die alle so kleinen Non-Profit-Akteure erreicht haben, scheint Jesu Weisung aus dem Matthäusevangelium hochgradig unprofessionell.

‚Tu Gutes und rede darüber!‘ Seit Georg-Volkmar Graf Zedtwitz von Arnim 1962 ein PR-Buch mit diesem Titel veröffentlichte, ist diese Parole zum geflügelten Wort geworden. Was soll denn auch schlecht daran sein, eine gute Tat, ein erfolgreiches Projekt, eine sinnvolle Initiative unter Geheimhaltung zu stellen. Vorbilder müssen doch sichtbar sein! Setze Dein Licht nicht unter einen Scheffel! Auch ein Jesuswort. Und wenn dabei das eigene Image ein wenig aufgebessert wird - das ist doch nicht schlimm, oder?

Bei dieser stolzgeschwellten Brust der PR-Berater kann aber durchaus auch etwas Unbehagen freigesetzt werden. In der nächsten Entwicklungsstufe des weithin gut sichtbaren guten Tuns, der ‚Corporate social responsibility‘, stellt sich manchmal die Frage, was da zuerst war: die anscheinend selbstlose Initiative zum gesellschaftlich verantwortlichen Handeln, oder das kühle Kalkül, welches strategische Wege und Mittel sucht, die eigene Selbstdarstellung und den Ruf bei Kunden, Mitarbeitenden und Öffentlichkeit zu verbessern.

In der Szene des Evangeliums spielt allerdings die Frage nach der ‚Effizienz‘ des Guten und der Hilfe nicht die zentrale Rolle. Jesus legt seinen Fokus auf die Beziehung der beiden Menschen, die sich im Akt des Almosens begegnen.

Dabei warnt Jesus vor zweierlei: vor der Eitelkeit und vor der Beschämung. Beide korrespondieren ja miteinander und schaffen ein gnadenloses Gefälle zwischen Gebenden und Empfangenden. Eine soziale Tat, die nach Applaus heischt, verliert leicht das Angesicht des Anderen aus den Augen. Und indem so aller Augen auf die Not und Bedürftigkeit des Anderen gelenkt werden, muss das gepriesene Almosen den Empfänger so abgrundtief beschämen, dass er sich nicht mehr traut, die Augen vom Boden zu heben.

Letztlich ist wohl eine Ethik des stillen, selbstverständlichen Ausgleichs und der Umverteilung der einzige Weg, um sich als gleichwertige Geschöpfe Gottes auf Augenhöhe begegnen zu können.




Sonntag, 18. August 2013
Predigttext: Markus 8, 22-26

22 Und sie kamen nach Betsaida. Und sie brachten zu Jesus einen Blinden und baten ihn, dass er ihn anrühre.
23 Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf, tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn: Siehst du etwas?
24 Und er sah auf und sprach: Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen.
25 Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, sodass er alles scharf sehen konnte.
26 Und er schickte ihn heim und sprach: Geh nicht hinein in das Dorf!


1
Liebe Gemeinde,
wozu hat Gott dem Menschen Augen gegeben, wenn nicht, um sich damit umzusehen in der Welt?
Was könnte schlimmer sein, als blind zu sein? Nichts Schmecken? Nichts riechen? Nichts spüren? Nichts hören?
Der Blinde in unserer Geschichte aus dem Markusevangelium soll jedenfalls wieder sehen können. Das wünschen ihm alle.

Das Auge gilt als unser wichtigstes Sinnesorgan.
70% unserer Sinneszellen befinden sich auf der Augennetzhaut.
Dem Seh-Sinn verdanken wir unseren aufrechten Gang als homo erectus:
denn erhobenen Hauptes konnten unsere Vorfahren weiter blicken in der Steppe,
man könnte auch sagen: besser spähen,
um nach potenziellen Feinden Ausschau zu halten. Oder nach allem, was als Beute Sättigung und Befriedigung versprach.
Angst, Schaulust und Neugier sitzen nah beieinander im Auge.

Sicher: das Lauschen funktioniert ähnlich.
Da spitzt man die Ohren, um verdächtige Geräusche zu orten. Oder um liebe Worte zu hören. Oder um neueste Tratschgeschichten aufzusaugen.

Wer späht und lauscht, erhält wichtige Informationen, um sich zu orientieren.
In der Welt. In der Gesellschaft.
Unter Freunden. Und unter Feinden.
Sie wissen noch, wie man die Staatssicherheit im DDR-Volksmund nannte?
Firma Horch und Guck.
Ohr und Auge der Partei.

Die Systeme wechseln. Der Wunsch nach Durchleuchtung und Kontrolle bleibt.
Auch im Westen also. Auch bei unseren Freunden jenseits des Atlantik. Auch bei uns.
Lauschen und Spähen. Denn:
Wer den Durchblick hat, hat Macht.
Kann geheime Strategien entwickeln. Intrigen inszenieren. Gefahrenherde ausheben und unschädlich machen.

Dass das Zeitalter der Aufklärung auch zugleich eine Blütezeit der Geheimbünde und Verschwörungsphantasien war ist sicher kein Zufall.
Unser fränkischer Jubilar Jean Paul hat viel davon in seine Roman aufgenommen und ausgesponnen.
Was er wohl heute schreiben würde, wenn er sehen könnte, mit welchen technischen Mitteln inzwischen gelauscht und gespäht und gespeichert und ausgewertet werden kann?
Als Schriftsteller wäre er wahrscheinlich hellauf begeistert. Aber als Bürger einer rechtstaatlichen Demokratie? Oder wäre er selber unter den Aufklärern, den Bradley Mannings und Edward Snowdens, die ihr Wissen öffentlich machen, um uns zu zeigen: das läuft hinter den Kulissen! Schaut hin!





2
Liebe Gemeinde,
als die Nachricht von den Spähprogrammen der US-amerikanischen Nationalen Sicherheits-Agentur ins bundesdeutsche Sommerloch einschlug und mediale Riesenwellen schlug, war zu vermuten, dass hier ein wichtiges Wahlkampfthema vom Himmel fiel.

Doch die Umfragen zeigen ein seltsam paradoxes Bild:
70% der Bevölkerung waren vor einem Monat mit dem Handeln der Bundesregierung unzufrieden und glaubten ihr nicht, dass sie erst aus den Medien von dem Spähprogramm erfahren habe. Aber zugleich sagten 70%, dass dies für ihre Wahlentscheidung keine oder eine geringe Rolle spielen würde. (Infratest Dimap 19.7.)
Auch gelang es der Piratenpartei als der ‚Fachorganisation‘ für Netzthemen und Datenschutz bisher nicht, einen Umfragevorteil aus den neuen Enthüllungen zu ziehen.

Was ist da los, frage ich mich?

Bestätigt die NSA-Affäre nur, was wir doch schon immer vermutet haben: dass der CIA alles mitbekommt, was er wissen will?
Oder ist doch die Haltung so weit verbreitet, dass man ja selbst kontrollieren kann, was man an privaten Daten ins Netz stellt und damit selbst verantworten muss, was über einen gewusst wird?
Oder glauben doch so viele den Versicherungen der Politiker, dass das Abschöpfen dieser Daten allein zur Verbesserung der Sicherheit und dem Schutz vor Terroranschlägen dient und ganz im Rahmen geltenden Rechts stattfindet?
Aber -
Geht das wirklich nicht gleichzeitig:
Sicherheit UND Privatsphäre?
Sicherheit UND Freiheit?
Und was ist mit dem in Deutschland sehr hoch geschätzten Recht auf informationelle Selbstbestimmung?
Und welche Asymmetrie stellt sich da ein: ich werde zum gläsernen Bürger, während es immer schwerer wird, die Vorgänge in Staat und Wirtschaft, Justiz und Militär, eben alles, was die entscheidenden Eliten so tun, zu durchschauen und eine eigene Meinung dazu zu bilden.

In einem beunruhigenden Halbwissen befinden sich selbst die an Politik interessierten Bürger.
‚Ich sehe Menschen herumgehen wie Bäume.‘ sagt unser Blinder in der Geschichte nach Jesu erstem Heilungsversuch. Da ist noch viel zu vieles schemenhaft und unklar und schwammig und nebulös. Nein, blind sind wir nicht mehr, naiv auch nicht. Aber scharf sehen, was ist, das steht noch aus.

3
Liebe Gemeinde,
Politikberatung mit der Bibel ist es ja nicht, was wir hier in dieser Predigtreihe machen wollen.
Aber ein paar erhellende Schlaglichter theologischer Art können ja auch nicht schaden.

Was mir zuerst einfiel bei der Vorbereitung waren die vielen menschlich-allzumenschlichen Geschichten der Bibel, in denen auch gespäht und geforscht wird: von den Kundschaftern auf dem Weg ins Heilige Land, im Militär Davids, der Perserkönig Darius lässt Daniels Glaubensleben zu Hause ausspionieren und auch die Weisen aus dem Morgenland haben etwas von einem Spähtrupp, wenn sie gleich die Spionageabsicht des Herodes unterlaufen und in eine friedliche Absicht umwandeln.

Der Wille zum Wissen ist wohl etwas ganz Fundamentales und auch das Bedürfnis nach Schutz und Privatsphäre. Die Grenze zwischen dem, was öffentlich (oder transparent) sein muss und was privat (oder geheim) bleiben darf, ist immer wieder neu zu ziehen. Mit guten Argumenten hoffentlich.
Und es ist entscheidend, wer welche Informationen wie verwendet. Dienen sie dazu, einen militärischen Sieg herbeizuführen? Oder liefern sie einen Vorwand, einen unliebsamen Beamten in die Löwengrube zu befördern?

Eine andere Perspektive bietet sich aus dem Psalm 139, den wir zum Eingang gesprochen haben.
Hier wird Gott – und er allein – als der Allwissende und alles Überschauende gezeichnet. Niemand kann sich vor ihm verstecken und verstellen. Er sieht in alle Winkel der Erde und in jedes Herz.

Dabei entfaltet sich die ganze Ambivalenz von Sicherheit und Überwachung. Für viele ist dieser Psalm unerträglich, weil hinter dem allgegenwärtigen Gott immer auch gleich die Kontrollinstanz erahnt wird, die nachschaut, ob man auch brav die Hände über der Bettdecke hat und nicht darunter, und der immer schon weiß, was gut ist und was böse. Andere lieben den Psalm, weil er zeigt, dass man nie aus Gottes schützender Nähe herausfallen kann. Und der hilft zu unterscheiden, welcher Weg zum Leben führt und welcher nicht.

Sicher ist dabei eins: Allwissenheit ist eine Eigenschaft, die nur Gott zukommt. Und wenn menschliche Institutionen versuchen, diesen Zustand zu erreichen, dann setzen sie sich hochmütig und enthemmt an Gottes Stelle. Und das ist Hybris. Eine der Todsünden. Denn sie hoffen mit der Allwissenheit auch die Allmacht erringen zu können.

Aber noch ein drittes: Auch Christus selbst ist ein wichtiger Bezugspunkt für diese Themen. Für den großen Theologen des letzten Jahrhunderts, Karl Barth, waren die Aussagen über Christus, das er die Wahrheit ist und das Licht, Anlass zu fragen, ob es aus christlicher Perspektive überhaupt so etwas wie Geheimdienste geben darf, die eben nicht dem öffentlichen Ringen um Wahrheit verpflichtet sind sondern im Finstern ihren demokratisch unkontrollierbaren Geschäften nachgehen.

Da sind es schon eher die sich selbst nicht schonenden Aufklärer und Petzer und Whistleblower, die diesem christlichen Ideal von Wahrheit und Klarheit zu entsprechen versuchen – auch wenn sie damit die Machtsicherungslogiken ihres Staates oder Arbeitsgebers zu verraten scheinen.
Denn ihr Handeln steht unter der Verheißung Jesu, dass Wahrheit frei macht.

4
Mir selbst, liebe Gemeinde, sind durch die Geschichte mit der Blindenheilung noch einmal die Augen aufgegangen für eine sehr politische Lesart der Geschichte:

Jenseits aller medizinischen Erklärungsversuche, mit denen man einer solchen Heilungsgeschichte auch zu Leibe rücken kann, reizt mich dabei der metaphorische Gehalt des Begriffs ‚Scharfsichtigkeit‘. Genau sehen, was Sache ist. Den Nebelwerfern trotzen. Und den Verschleierungsmechanismen.

Bei der Blockupy-Demo Anfang Juni in Frankfurt habe ich zum ersten Mal aus der Nähe gesehen, wie Pfefferspray wirkt. Wenn einen der Strahl aus der Sprayflasche mitten ins Gesicht trifft. Wie die Augen zuschwellen, tränen und schmerzen. Als sollte bei den vielen kritischen und wachen Demonstrierenden bestraft und verhindert werden, dass sie genau hinsehen, wie Politik und Banken in der anhaltenden Krise agieren.

Aber was wäre das auch für eine Demokratie, in der es den Wählern nur alle vier bis fünf Jahre wieder gestattet ist, die Machthabenden zu legitimieren und dann diese machen zu lassen bis zur nächsten Wahl. Das wachsame Augenaufhalten kann man letztlich nicht delegieren. Zumindest nicht allein an die Amtsträger/innen und Funktionäre. Diese streuen nur zu gerne Sand in die Augen der Öffentlichkeit.

In Frankfurt gab es in den Reihen der Demonstration die vielen freiwilligen Sanitäter, die den Pfefferspray-Opfern schnell zu Hilfe eilten und mit ihren Wasserflaschen so lange die Augen spülten, bis sie nach und nach wieder sehen konnten, erst schemenhaft, dann wieder klar. Für viele junge Demonstrationsteilnehmende, die ich gesprochen habe, war diese erste Begegnung mit Polizeigewalt, die demokratische Auseinandersetzung verhindern sollte, ein Schock.
Sicher: auch eine Politisierung. Aber leider erst einmal mit Misstrauen und Skepsis gegenüber den Machtmechanismen und Machtverhältnissen. Sie haben das Gewaltmonopol des Staates als Bedrohung erlebt und nicht als Schutz.
Vielen wird es nicht mehr möglich sein, in ihr ‚altes Dorf‘ einer politischen Arglosigkeit zurückzukehren.
Und es ist offen, ob sie sich ihren Weg der politischen Mitwirkung im Rahmen des etablierten Parteiensystems und der repräsentativen Demokratie suchen werden. Oder doch eher als eine außerparlamentarische, wache, scharfsichtige und sich einmischende Kontrollinstanz.

Gut, wenn wir Christen ihnen einen Jesus zeigen können, der auf Seiten des klaren Blicks und der offenen Augen steht und ermutigt, auf dem eigenen Weg weiterzugehen.

Wie bei dem Blinden im Markusevangelium. Oder bei Paulus, als der durch die Begegnung mit Christus zu einem ‚neuen Sehen‘ kam. Oder auch bei uns. Als Wählerinnen und Wählern. Und als Christinnen und Christen.

Amen.




Montag, 24. Juni 2013
Thema: LadenLeben
Gehalten am 23. Juni 2013 in St. Lorenz
Predigttext Johannes 8, 3-11

1
Liebe Gemeinde,

da geht Jesus an einem ganz gewöhnlichen Tag morgens in den Tempelhof in Jerusalem um mit den Menschen, die da herein- und herumspazieren, zu reden, zu debattieren über Gott und die Welt, wie er es oft genug getan hat:
und ungeahnt steht er plötzlich mittendrin in einem richtig heftigen Gewärch, das wie ein Sommergewitter über ihn hereinbricht.

Das Volk drängt sich um ihn herum und die Emotionen schlagen hohe Wogen: In flagranti hat man sie erwischt, die Ehebrecherin, diese Hur. Eine, die die gesellschaftlichen Regeln eines geordneten und gesicherten Lebens außer Kraft setzt. Eine, die uns auf das Wilde und Leidenschaftliche und Unkontrollierte in unseren eigenen Tiefen stößt. Eine, die rücksichtslos lebt und genießt, die ihrer Gier und ihren 'animalischen Trieben' folgt – darf‘s das geben?

Die Vorschrift, wie mit einer solchen fleischgewordenen Bedrohung der anständigen Welt umzugehen ist, die steht geschrieben. Wie auf Steintafeln gemeißelt mit Gottes eigenem Finger. Wer die Ehe bricht, so sagt es das Gesetz des Mose, der muss sterben. Der Mann – der in dieser Bibelgeschichte seltsam unerwähnt bleibt – übrigens auch.

Und Jesus soll nun sagen, was zu tun ist: Sich ans harte Gesetz der Vorväter halten - und damit ein Todesurteil und Lynchjustiz befürworten, die die römischen Besatzer nicht dulden können. Oder die Verbrecherin entschuldigen und damit allen seinen Kritikern in die Hände spielen, die ihn als Verräter am traditionellen Glauben schon lange gerne ans Messer liefern wollen.

Eine raffinierte Falle, aus der er kaum heil wieder rauskommen dürfte. Denken seine Feinde.


2
Es gibt ein sehr eindrückliches Gemälde von Max Beckmann, in dem er diese hochdramatische Situation zu einem raffinierten Figurentableau konzentriert.
Auf dem Liedblatt vorne ist es abgedruckt. Nur in schwarz-weiss. Aber alles Wesentliche ist hoffentlich gut zu erkennen.

(zum Bild 'Christus und die Ehebrecherin' http://de.wahooart.com/A55A04/w.nsf/Opra/BRUE-8LSVT4)

Denn das Wesentliche an dieser künstlerischen Verdichtung sind hier für mich: die Hände und Gesten der Figuren. In diesen Händen bildet sich viel ab an möglichen Beziehungen von uns Menschen untereinander: ungute und hilfreiche.

Da sind die Hände der Ankläger und Besserwisser rechts von Jesus: sie benutzen mit Vorliebe ihren Zeigefinger.
Mit dem kann man genau drauf deuten, was einem verdächtig vor kommt oder nicht passt. Da schaut hin, was für ein Mensch…Und man kann diesen Finger gut nach oben strecken: als Zeichen der Mahnung und der Drohung. Wehe Dir! Wart nur ab! Der da oben wird dich schon zur Rechenschaft ziehen!

Und da sind die Hände des Mobs, links und rechts ganz am Rand: die ballen ihre Hände zu Fäusten. Sie drohen mit Gewalt und Vernichtung. Wer uns stört, der wird vertrieben. Wer zu uns gehört, bestimmen wir. Wir können vertreiben, ja töten, was uns und unserer Moral in die Quere kommt, was fremd ist und bedrohlich.

Ganz anders wieder die Hände der Frau, die vor Jesus kniet. Sie, die beschämt die Augen niederschlägt, streckt die bittenden Hände ihm entgegen, von dem sie Hilfe und Rettung erhofft. Herr, siehe an mein Elend und meine Not! Scheint sie damit zu sagen.Hände, fast wie bei Dürer, nur hier gefüllt mit drängendster Lebensbedrohtheit.

Wenn wir uns lösen von dem Beckmannschen Bild und uns umschauen mit wachen Augen: dann finden wir solche Hände an allen Orten der Gesellschaft: Die Gesten der Verachtung und Ausgrenzung, die Posen der Selbstüberhebung und den Moralismus, die Werkzeuge von Drohung und nackter Gewalt. Da müssen noch nicht einmal Steine fliegen. Und die bettelnden, flehenden, betenden Hände derer, die marginalisiert und bedroht sind. Oft nicht ohne Schuld. Aber gerade deshalb und um so mehr in Not und der Hilfe bedürftig.

Diese Hände - es sind immer auch unsere eigenen Hände. Bei allen Figuren. Denn wir alle sind Pharisäerinnen und Pharisäer. Und Ehebrecherinnen und Ehebrecher. Wenn nicht im Großen, so doch im Kleinen. Grund genug, die Steine aus der Hand zu legen, die wir da immer wieder umschließen und schleudern möchten in Wut und Zorn.

3
In dieser Gemengelage, diesem Gewärch, steht einer, der hat die Hände noch einmal anders. Der Christus. Es ist eine doppelte Geste. Mit zwei ganz verschiedenen Richtungen.

Die linke Hand, das ist die schützende Hand. Die sagt: zurück mit Euch. Lasst die Gewalt und die Verachtung. Tut ihr nichts. Diese Hand, sie mahnt und konfrontiert die Angreifer. Und sie schafft den Schutzraum ihr, die so bedroht am Boden kniet.

Doch dabei lässt es Jesus nicht bewenden. Die rechte Hand, die fordert etwas ein. Die Frau, sie ist zwar sicher und geschützt bei ihm. Aber auch sie erhält von ihm eine klare Forderung: Du musst Dein Leben ändern. Etwas geben! Ich richte dich nicht. Aber gehe hin und tue kein Unrecht mehr.

Zuspruch und Anspruch – so wurde dieses Ineinander in der Theologie mal auf eine Formel gebracht. Heute ist uns diese doppelte Haltung etwas verrutscht in ‚Fördern und Fordern‘. Und die Geste der Gnade und der Einladung zur Umkehr wird vom Maßnahmenkatalog der Disziplinierungsmöglichkeiten überlagert und der Zeigefinger und die Faust sind wieder da.

Die Hände des Christus auf dem Bild. Sind es auch unsere Hände als Christinnen und Christen?

4
Liebe Gemeinde!

Eine Hand aus der Geschichte fehlt auf dem Bild von Max Beckmann. Ich meine den Finger Jesu, mit dem er in den Sand scheibt. Einmal, zweimal. Es ist viel gerätselt worden, was Jesus da macht. Ob er die kreative Denkpause braucht. Oder einfach die Anklage ignoriert und Langeweile demonstriert.

Wenn man aber bedenkt, dass es die Vorstellung gab, dass Gott sein ewiges Gesetz auf die Tafeln des Mose mit eigener Hand, dem Gottesfinger eingraviert hatte, so stellt sich dieses Schreiben Jesu noch einmal anders dar.
Er schreibt sein Gesetz im Sand. Sand, da kann man das Geschriebene verwischen. Ohne Mühe. Ein wisch und etwas Neues kann hinein gezeichnet werden.

Das Gesetz Jesu – es scheint wandelbarer, flexibler zu sein, als ein starres Gebot mit ewig gleichem Wortlaut.

Es ist anscheinend situativ: mit jeder Herausforderung sind wir aufgerufen, gemeinsam neu nachzudenken und zu bestimmen, was denn Gerechtigkeit hier und jetzt sein kann. Wie wir den Fragen der Zeit und den Menschen, die uns begegnen, GERECHT werden können.

Das wird dann natürlich nie ganz beliebig und ohne bestimmte Grundorientierungen gehen. Der Wochenspruch dieser Woche ist so eine Grundregel Jesu: Jeder soll dem anderen helfen, seine Last zu tragen. Auf diese Weise erfüllt ihr das Gesetz, das Christus uns gegeben hat. So steht es im Galaterbrief des Paulus.

Aber was das dann konkret heißt: helfen, Lasten zu tragen, dazu braucht es Menschen, die diesen Auftrag annehmen und ernst nehmen und miteinander fragen, wo sie gebraucht werden und wie sie ihre Ideen und Kräfte einsetzen können für diesen Lastenausgleich.

Der LoLa hat sich von Angang an als so ein Ort und eine solche Gemeinschaft verstanden. Gut, dass es ihn gibt. Schön, dass ich nun mit Euch diese Fragen stellen kann und meine Kräfte einbringen. Und tun wir das unsere, dass er noch lange diese Aufgabe wahrnehmen kann.

Als Ort des Schutzes. Und der Erneuerung.
Mit Jesu Händen als unseren Händen.

Amen.




Samstag, 11. Mai 2013
Thema: LadenLeben
Schon jetzt herzliche Einladung zum Gottesdienst, in dem ich von Stadtdekan Dr. Jürgen Körnlein und dem LoLa-Team in die neue Aufgabe eingeführt werde.

Sonntag, 23. Juni 2013, um 11.30 Uhr in der Lorenzkirche in Nürnberg




Und natürlich darf eine Kategorie nicht fehlen, in der alles mögliche Sammelsurium seinen Platz findet: Surfperlen, Links, Schnappschüsse, Lesetipps...




Thema: WeltWeit
Das lokale Engagement geschieht immer im Blick auf die weltweiten Zusammenhänge und in Solidarität mit den Menschen in anderen Ländern. Das soll in dieser Rubrik Raum haben.




Hier stehen irgendwann Kommentare zu Fragen, die die Nürnberger Stadtöffentlichkeit beschäftigen. Aber dazu muss ich als 'neu Zugereister' erstmal mehr mitbekommen, was Themen und Fragen sind.




In dieser Kategorie poste ich Überlegungen und Texte zu dem, was mich als Christ in meiner Beziehung zu Gott, Kirche und Welt beschäftigt.




Steifzüge sollen Beobachtungen enthalten, die ich mache, wenn ich in der Nürnberger Altstadt unterwegs bin. Denn als Angebot für die Innenstadt muss man ja wissen, was es da so alles zu entdecken gibt...




Thema: LadenLeben
Hier soll es um Veranstaltungen oder berichtenswerte Entwicklungen im LoLa selbst gehen.




Mein Arbeitsbeginn im Lorenzer Laden ist zwar erst am 1. Juni 2013. Aber dann soll ja auch schon alles bereit sein an 'Infrastruktur'.

Mein Vorsatz: Bloggen aus dem Leben eines Ladenpfarrers. Für alle, die sich für den LoLa interessieren. Als Mitarbeiter_innen, Besucher_innen, Unterstützer_innen, neugierige Nürnberger_innen.

Und vielleicht gibt es noch andere, die so ein basisgemeindliches Citykirchenprojekt spannend finden. Und mit uns Wege suchen, wie wir in Fragen der Gerechtigkeit voran kommen können - vor Ort und in der einen Welt.